Der Herr ist mein Hirte

Eines Tages hütete ein junger Mann namens David seine Schafe, als ihm der Gedanke kam, dass Gott wie ein Hirte ist. Er dachte an die ununterbrochene Fürsorge, die Schafe brauchten – ihre Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit. Er erinnerte sich an ihr dummes Streunen abseits der sicheren Pfade und ihre ständige Bedürftigkeit nach einem Führer. Er dachte an die Zeit und die Geduld, die es kostete, ehe sie ihm vertrauten und somit folgten. Er erinnerte sich an die Zeiten, wenn er sie durch Gefahren führte und sie sich nahe an ihn hielten. Er bedachte die Tatsache, dass er für seine Schafe denken musste, für sie kämpfte, sie bewachte und ihnen Weiden und Wasserquellen suchen musste. Er dachte an ihre Schrammen und Kratzer, die er verband und staunte darüber, wie oft er sie aus Not retten musste. Dennoch war sich keines seiner Schafe bewusst, wie gut über sie gewacht wurde. Ja, so dachte er, Gott ist sehr wohl wie ein guter Hirte.

Hirten damals kannten ihre Schafe mit Namen. Sie waren mit all ihren Wegen vertraut – ihren Eigenarten, ihren Charaktereigenschaften, ihren Tendenzen. Damals trieben die Hirten ihre Schafe nicht, sie führten sie. Beim Morgenruf des Hirtens – ein eindeutiger Ruf – erhob sich jede Herde und folgte ihrem Herrn zur Weide. Selbst wenn zwei Hirten gleichzeitig ihre Herden riefen und die Schafe zusammen waren, folgten sie nie dem falschen Hirten. Den ganzen Tag lang folgten die Schafe ihrem Hirten, wenn er in der Wildnis nach grünen Weiden und geschützten Quellen suchte, wo seine Herde in Ruhe grasen und trinken konnte.

Zu bestimmten Jahreszeiten war es nötig, dass die Herden tiefer in die Wildnis geführt wurden, einer einsamen Einöde, wo Raubtiere lauerten. Aber die Schafe waren immer gut bewacht. Hirten trugen einen „Stecken“ (einen schweren Knüppel) an ihren Gürteln und einen Hirtenstab in ihren Händen. Der Stab hatte einen Haken, der dazu benutzt wurde, die Tiere aus gefährlichen Lagen zu befreien oder sie davon abzuhalten, vom Weg abzuweichen. Der Stecken war eine Waffe, um Raubtiere abzuwehren. David sagte: „Wenn ein Löwe oder ein Bär kommt, um ein Lamm aus der Herde zu rauben, dann verfolge ich ihn, schlage auf ihn ein und reiße ihm das Lamm aus dem Maul“ (1. Samuel 17,34-35).

Den ganzen Tag lang blieb jeder Hirte in der unmittelbaren Nähe seiner Tiere, beobachtete sie aufmerksam und schützte sie vor der geringsten Gefahr. Verirrte sich ein Schaf, machte sich der Hirte auf die Suche, bis er es fand. Dann legte er es über seine Schultern und brachte es nach Hause zurück. Am Ende des Tages führte jeder Hirte seine Herde in die Sicherheit des Pferchs und legte sich vor den Zugang, um sie schützen.

Ein guter Hirte ließ seine Schafe nie alleine. Ohne ihn wären sie verloren. Seine Gegenwart war ihre Versicherung. Es ist dieser gute Hirte, an den David wohl dachte, als er jede Zeile des 23. Psalms verfasste.

Der Herr ist mein Hirte, ich habe alles, was ich brauche. Er lässt mich in grünen Tälern ausruhen, er führt mich zum frischen Wasser. Er gibt mir Kraft. Er zeigt mir den richtigen Weg um seines Namens willen. Auch wenn ich durch das dunkle Tal des Todes gehe, fürchte ich mich nicht, denn du bist an meiner Seite. Dein Stecken und Stab schützen und trösten mich. Du deckst mir einen Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du nimmst mich als Gast auf und salbst mein Haupt mit Öl. Du überschüttest mich mit Segen. Deine Güte und Gnade begleiten mich alle Tage meines Lebens, und ich werde für immer im Hause des Herrn wohnen.

Der Hirte ruft nach uns und lauscht auf das kleinste Geräusch des Lebens. Er hört das leiseste Schreien. Wenn er nichts hört, gibt er nicht auf oder geht weg. Wenn wir uns ihm zuwenden, dann ist er da, um uns zu begrüßen. Er war schon immer da. „Der Herr ist allen nahe, die ihn anrufen, allen, die ihn aufrichtig anrufen.“ (Psalm 145,18) Nichts motiviert Gott mehr als Liebe. Es ist sein Wesen zu lieben. Er kann gar nicht anders, denn „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4,8).

Gibt es in deinem Leben eine namenlose Trauer? Einen vagen, traurigen Schmerz? Ein unerklärliches Ziehen in deinem Herzen? Komm zu dem, der dein Herz geschaffen hat. Jesus sagt: „Kommt alle her zu mir, die ihr müde seid und schwere Lasten tragt, ich will euch Ruhe schenken. Nehmt mein Joch auf euch. Ich will euch lehren, denn ich bin demütig und freundlich, und eure Seele wird bei mir zur Ruhe kommen. Denn mein Joch passt euch genau, und die Last, die ich euch auflege, ist leicht.“ (Matthäus 11,28-30)

Wenn wir uns selbst überlassen sind, dann hätten wir nichts als Unruhe, getrieben von der Erkenntnis, dass da mehr ist, als was wir kennen und lieben. Aber Gott überlässt uns nicht uns selbst.  Nach Psalm 23,2 führt er uns in grüne Täler, damit wir uns ausruhen können. Er führt uns zum frischen Wasser. Das hier verwendete Verb enthält die Bedeutung des sanften Zuredens – ein Hirte, der geduldig und ständig seine Schafe ermutigt, an den Ort zu gehen, wo ihr Hunger und Durst gestillt werden.

Zu Davids Zeiten waren „grüne Täler“ Oasen in der Wüste. Dorthin führte der Hirte die durstigen Herden.  Auf sich alleine gestellt, würden die Schafe in die Wüste hinauswandern und sterben. Erfahrene Hirten aber kannten die Umgebung und führten die Herden zu bekannten Weiden und Bächen, wo sie Futter fanden, sie hinlegen und ausruhen konnten.

Das Bild, das hier verwendet wird, ist nicht, dass Schafe grasen oder trinken, sondern sich ausruhen und ausstrecken. Das Verb „führen“ legt nahe, dass die Geschwindigkeit langsam und entspannt ist. Die Szene ist eine der Stille, des Friedens, der Zufriedenheit und der Ruhe. Üblicherweise ließen Hirten ihre Herden morgens auf magerem Weideland grasen und führten sie im Laufe des Vormittags zu besseren Weideflächen und brachten sie zur Mittagszeit schließlich zu einer kühlen, schattigen Oase.

Das Bild vom frischen Wasser betont das Konzept der Ruhe – der Zustand, in dem all unsere Bedürfnisse gestillt sind. Augustinus, der frühe christliche Theologe und Philosoph rief aus: „Was bringt mich dazu, meine Ruhe bei dir zu suchen … damit ich meine Unruhe vergessen kann, mich an dir festhalte, dem einen guten Ding in meinem Leben?“ Alles beginnt mit Gott. „Er lässt mich in grünen Tälern ausruhen, er führt mich zum frischen Wasser“ (Psalm 23,2). Der Gute Hirte „ruft seine Schafe, die ihm gehören, beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er seine Herde versammelt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen“ (Johannes 10,3-4).

Gott macht den ersten Schritt. Er ergreift die Initiative und ruft uns und führt uns an einen Ort der Ruhe. Nicht, weil wir Gott suchen. Wir wurden für Gott erschaffen und ohne seine Liebe spüren wir den Schmerz der Einsamkeit und Leere. Er ruft aus der Weite des Weltalls in unsere Tiefen. David beschreibt dies wie folgt: „Mein Herz spricht dir nach: ‚Sucht meine Nähe!‘ Ich suche deine Nähe, Jahwe“ (Psalm 27,8 NeÜ). Gott sprach zu den Tiefen von Davids Herzen und flüsterte ihm seinen Herzenswunsch zu: „Suche meine Nähe.“ Und David antwortete: „Ich suche deine Nähe, Jahwe.“

Und genauso ist es: Gott ruft uns – bittet uns, ihn zu suchen – und unsere Herzen sehnen sich nach ihm. Was sind diese grünen Täler und die frischen Bäche, zu denen Gott uns führt? Und wo sind sie? Was steckt wirklich hinter diesen Metaphern? Gott selbst ist unser grünes Tal (Jeremia 50,7) und unsere Quelle des frischen Wassers. Er ist unsere wahre Nahrung, unser lebendiges Wasser. Wenn wir ihn nicht in uns aufnehmen, werden wir verhungern.

Es gibt einen Hunger im menschlichen Herzen, der nur durch Gott gestillt werden kann. Es gibt einen Durst, den niemals als er stillen kann. „Ihr solltet euch nicht so viel Mühe um die vergängliche Speise machen“, sagt Jesus, „sondern euch um die bemühen, die für das ewige Leben vorhält. Diese Nahrung wird der Menschensohn euch geben … Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nie mehr hungrig sein, und wer an mich glaubt, wird nie wieder Durst haben“ (Johannes 6,27.35).

Aber wie „grasen“ wir bei Gott und „trinken“ von ihm? Wieder einmal finden wir hier die Symbolik. Was bedeutet dieses Bild? Es beginnt so, wie jede Beziehung beginnt, mit einem „Treffen“. David schreibt: „Wie der Hirsch nach Wasser dürstet, so sehne ich mich nach dir, mein Gott. Mich dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und ihn sehen?“ (Psalm 42,2-3)

Gott ist eine echte Person. Er ist keine menschliche Erfindung, ein Konzept, eine Theorie oder eine Projektion unserer selbst. Er ist überwältigend lebendig, lebendiger, als wir es uns in unseren wildesten Träumen vorstellen können.

Der Autor A. W. Tozer schrieb:

Gott ist eine Person und deshalb können wir eine Beziehung zu ihm pflegen, wie zu jeder anderen Person auch. Gott ist eine Person und in den Tiefen seiner mächtigen Natur denkt, will, genießt, fühlt, liebt, begehrt und leidet er wie jeder andere Mensch auch. Gott ist eine Person und kann in zunehmendem Maße bekannt werden, wenn wir unsere Herzen auf das Wunder dieser Person vorbereiten.

Das ist die Wirklichkeit, aber auch das Problem: Sind wir bereit, uns darauf vorzubereiten, ihm zu begegnen? Er antwortet auf die kleinste Bewegung, aber wir sind es, die entscheiden müssen, wie nahe wir ihm sein wollen. „Und wenn ihr ihn aufrichtig und ernsthaft sucht“, so schreibt es Mose. Direkt im Anschluss verspricht er: „Dann werdet ihr ihn finden“ (5. Mose 4,29).

Wir müssen nicht lange oder beschwerlich nach Gott suchen. Er ist nur so weit von uns entfernt, wie unsere Herzen es sind (Römer 10,8-9). Aber er wird sich nicht aufdrängen. Er ruft uns, aber dann wartet er auf unsere Antwort. Unser Weg zu ihm wird durch unseren Wunsch bestimmt, eine persönliche Beziehung mit ihm einzugehen – ihn zu kennen.

„In einer Menschenmenge ist es schwierig, Gott zu sehen“, sagte Augustinus. „Diese Sehkraft sehnt sich nach dem heimlichen Ruhestand.“

„Geh in dein Kämmerlein und schließe deine Türe zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist“, sagte Jesus (Matthäus 6,6 SLT). Dort wird er dich treffen.